Dr. Andreas Bee

Museum für Moderne Kunst, Frankfurt am Main

Die Klärung der Form

Man ist um den Preis Künstler, dass man das, was alle Nichtkünstler 'Form' nennen, als Inhalt, als ,die Sache selbst' empfindet. Damit gehört man freilich in eine verkehrte Welt: Denn nunmehr wird einem der Inhalt zu etwas bloß Formalem - unser Leben eingerechnet. (1 Friedrich Nietzsche)

Man tue gut daran zu beschreiben, was man sehe, hat Joseph Beuys einmal gesagt, auf diese Weise komme man in den Bereich dessen, was der Künstler meine. Auch die Dinge zu erahnen sei gut. Nur im Notfall oder aus Schulungsgründen greife man zu Mitteln der Interpretation. Dieser im Kern sehr alte, doch nur noch selten befolgte Rat kann heute in seiner Bedeutung für die Auseinandersetzung mit bildkünstlerischen Werken kaum überschätzt werden. Denn in der Regel ist für das an der Form interessierte Auge nichts so erhellend wie die Benennung der charakteristischen Merkmale einer Sache, für die visuelle Erkenntnis nichts so förderlich, wie eine vergleichende Gegenüberstellung bzw. Konfrontation mit Verwandtem und Vorgewusstem. Die formale Beschreibung eines Kunstwerkes dient der Konzentration auf das Wesentliche, denn diese Umschreibung mit Gedanken und Worten ermöglicht überhaupt erst die Rekonstruktion des Schaffensprozesses, in dem sich die inhaltlich-formale Zuspitzung ausgebildet hat. Bei jedem Kunstwerk stellt sich also zuerst die Frage nach der Form, ohne Klärung der Form kann es keine Erkenntnis des Gehaltes geben. Nur wenn wir an der Form festhalten, kann es gelingen, uns selbst ein erkennendes Auge anzuerziehen, nur auf diese Weise fördern wir ein Organ, das uns die Energie des Kunstwerkes vermittelt, ja das Werk in seiner Komplexität überhaupt erst konstituiert. Ich will versuchen darzulegen, was ich meine: Betrachtet man eine spezielle Arbeit von Christoph Mancke intensiver, wie den knapp eineinhalb Meter hohen Eisenguss aus dem Jahr 1989, dann sind besonders die verhalten bewegten Kantenverläufe, leichten Bucklungen der Oberfläche und eine die spröden Eigenschaften des Materials konternde Elastizität der Gesamtform signifikant. Diese im Detail noch vielfältig zu spezifizierenden Eigentümlichkeiten summieren sich schließlich zu einem Gesamteindruck, bei dem die virtuelle Bewegtheit der plastischen Form eine zentrale Bedeutung einnimmt. So reduziert die Bewegtheit im ersten Moment auch erscheinen mag, sie wird schließlich zum Fluchtpunkt aller Bewegungen, zum Magnet aller Formen. Bewegtheit meint im Falle Manckes einen Balanceakt an der Grenze unterschiedlicher Formgesetze, meint ein ständiges Pendeln zwischen organischen und anorganischen Wachstumsgesetzen. Es geht hier um eine Bewegtheit, die nichts Bekanntem mehr gleicht und doch alles Vergleichbare in sich aufgenommen hat. Damit ist die Plastik von 1989 in gewisser Weise typisch für eine ganze Gruppe von Arbeiten, denn genau wie hier, im speziellen Einzelfall, so entsteht auch bei der Beschäftigung mit den meisten anderen Werken sehr bald ein grundsätzlich vergleichbarer Eindruck. Das vordergründig konstatierbare formale Gleichgewicht zwischen stereometrischer Körperhaftigkeit und organischer Körperlichkeit verschiebt sich bei der überwiegenden Zahl der Arbeiten letztlich leicht zugunsten des organischen Formprinzips. Denn sämtliche Plastiken streifen früher oder später alles distanziert Anonyme ab, verlieren also jene indifferenten Eigenschaften wie sie ja bekanntlich für geometrische Formen bestimmend sind. Schließlich entpuppen sich die Plastiken Manckes als energetische Wesen mit individuellen Merkmalen.

Das Einzelstück, das Paar oder die Gruppe üben also eine Wirkung aus, deren entscheidende Kraftquelle aus der Spannung zwischen anthropomorphen und abstrakten Momenten entspringt. Unsere Sprache gerät angesichts dieser subtilen und schwer zu entflechtenden Mischung aus Geometrischem und Evokativem schnell an ihre Grenze, dem Reichtum der Variationsfähigkeit dieser Formen vermag sie nicht zu folgen. Nur das Grundthema läßt sich annähernd bestimmen. Die kaum messbaren, optisch aber sehr wohl wirksamen Bewegungen in der Oberfläche, die Verschiebungen und leichten Drehungen der insgesamt klar umrissenen Formen sind unmissverständliche Hinweise auf die alle Arbeiten auszeichnende unprätentiöse Belebtheit und eine beinahe körperlich zu nennende Lebendigkeit, die sich auf den Betrachter überträgt.

Der erwähnte Überhang anthropomorpher Kriterien ist noch unter einem anderen Gesichtspunkt zu erfahren. Denn formal wie metaphorisch bindet die erwähnte Plastik von 1989 durch ihre vertikale Ausrichtung entscheidende Hinweise auf die Versicherung eines körperhaften Stehens schlechthin. Allein das 'Aufragen' mag man schon als Manifestation des menschlichen Selbstverständnisses begreifen, als ein Gleichnis der selbständigen Existenz und des Sachvergewisserns dieser Selbständigkeit. Doch nicht auf das Charakteristische einer individuellen Leiblichkeit, sondern auf eine allgemeine Verkörperung eines Existenzgefühls läuft die Wirkung dieses Stehens schließlich hinaus. Das wiederum liegt, so paradox es auch klingt, an der tendenziellen Neigung der Plastik weg von der unpersönlich geometrischen Form hin zu individualistisch zu nennenden Charakteristika. Das Stehen wird somit einerseits zum Symbol einer Idee und ist andererseits der Versuch, einer inneren, individuellen Haltung Ausdruck zu verleihen. Die Stelen im Werk von Mancke zeigen also nicht an, was hinter ihnen oder außerhalb von ihnen ist, verharren nicht in einer allgemeinen, formelhaften Abstraktion, wie sie beispielsweise durch die ägyptischen Obelisken verdeutlicht wird, sondern pochen vielmehr auf eine selbständige Existenz mit anthropomorph zu nennenden Eigenschaften. Das den meisten 'Figuren' zugrunde liegende Ethos der Selbstbehauptung ist deshalb Haltung im übertragenen Sinn, ist Ausdruck freiheitlicher Selbstformung und selbstgewählter Begrenzung. So verstanden sind die aufrecht stehenden Arbeiten Manckes stets mehr als ein taktiles Spiel von Kanten, Oberflächen und Drehungen. Ihrer tatsächlichen Materialschwere entspricht ein energetisches Potential, dessen Wirkung in der Betrachtung unschwer nachvollzogen werden kann. Sie sind als Kunstwerke mit spiegelbildlichen Eigenschaften herausfordernde Kontrahenten für den Betrachter, der sich ein Gefühl für Körper und Rhythmus bewahrt hat. Sie sind Versicherung der menschlichen Existenz, ohne in irgendeiner Form erzählerisch sein zu müssen. Sie ermöglichen dem Betrachter eine Klärung der eigenen Positionen und Haltungen ihnen gegenüber, ohne bestimmend auf ihn einzuwirken. Sie sind gleichzeitig hinweisend und offen, dabei weit entfernt von einer der abstrakten Kunst so häufig unterstellten Beliebigkeit. All das lässt sich aus ihren Formen ableiten, nirgends sonst.

Zwischen 'Stehen' und 'Liegen' gibt es bekanntlich unzählige formale Zwischenstufen. In allen Arbeiten, die von einer selbständigen, das heißt weitgehend stabilen Haltung abweichen, spielt bei Mancke, neben den bereits bekannten Momenten der subtilen Formspannungen an der Außenhaut, besonders das Verhältnis von lastenden und tragenden Kräften eine wichtige Rolle. Das gilt vor allem für zweiteilige Plastiken, in denen manchmal nicht nur Formen, sondern vereinzelt auch unterschiedliche Materialien spannungsstiftend eingesetzt wurden. Im Gegensatz zu den singulär oder in Gruppen versammelt stehenden Güssen, sind die im labilen Zwischenreich von Vertikal und Horizontal angesiedelten Formen insgesamt komplizierter strukturiert. Die Zusammenhänge und die sich daraus ergebenden Bezüge verlangen also auch eine komplexere Analyse. Trotz ihrer Komplexität verschleiert die reichere Formensprache keineswegs das auch diesen Arbeiten zugrunde liegende Interesse Manckes an klassisch zu nennenden Balance- und Spannungsverhältnissen. Wiederum geht es letztlich um visuell und - nun verstärkt - körperlich-sinnlich nachvollziehbare Kräfte und Erfahrungen. Die Plastiken des 'Zwischenreiches' richten sich intensiver als die Stelen an die Fähigkeit des Rezipienten nicht nur mit dem Auge, sondern auch mit dem ganzen Körper zu reagieren. Dass diese 'labilen' Plastiken tatsächlich Augen- und Körpersinne anzusprechen verstehen, ist leicht zu beobachten. So balancieren wir beispielsweise, oftmals von uns selber unbemerkt, eine leichte Linksneigung innerhalb des Werkes durch eine vorsichtig nach rechts sich orientierende Spannung der eigenen Körperhaltung aus, empfinden ein scheinbares Fallen der schweren Gussstücke wie eine magnetisch ziehende Kraft, identifizieren uns einmal mit dem aktiveren oder dem passiveren Part einer Doppelform, je nach persönlichen Vorlieben und Eigenschaften. Nicht selten haben wir bei all dem einen Ausgleich von Spannungen im Sinn, suchen durch unser bewusstes oder unbewusstes Eingreifen einen störungsfreien Fluss der Kräfte zu erreichen. Doch dieser ersehnte Ausgleich bleibt stets nur ein uneinholbares Ideal, er kann konfliktfrei angesichts einer guten Arbeit niemals gelingen. Trotzdem sind die auf harmonische Vermittlung zielenden Versuche von Körper und Auge sinnvoll, denn der klärende Blick auf eine bestimmte Plastik mit bestimmbaren Eigenschaften schärft automatisch die Wahrnehmungsfähigkeit für die Besonderheiten einer anderen Formulierung. Jede neue Form aber erzeugt neue Spannungen und Stimmigkeiten. Durch ein vergleichendes Sehen gerät man in den Strudel der Formen und vergisst schließlich ganz, dass es sich um abstrakt argumentierende Werke handelt. Vielleicht bemerkt man nun um so deutlicher die Verwandtschaft dieser Formensprache mit einer Grundproblematik, wie sie seit der ,Erfindung' des Kontrapostes in Griechenland die Bildhauer beschäftigt hat. Man begreift intensiver denn je: Der Einsatz von Schwerkraft, Druck, Zug und Spannung auf der einen Seite, die Versuche der Lösung dieser Spannung auf der anderen sind mit dem durch Illusionen verdorbenen Auge allein nicht zu bewältigen. Ein körperlicher Sinn ist dazu notwendig, ein Sinn für Balance und Raum. Malerei kann diesen Sinn kaum aktivieren. Auch illusionistische Plastik lenkt eher ab. Bei Mancke aber ist Plastik nicht illusionistisch und nicht was sie scheinbar ist, sondern ganz und gar konkret, was sie ist. Diese Art der Formulierung führt nicht auf Abwege, sondern weist hin, aktiviert dadurch eine Fähigkeit der Wahrnehmung, die zu verkümmern droht. Der Sinn für Körper und Balance verbindet sich unwillkürlich mit dem Bedürfnis, den Raum zu erfahren, denn plastisches Denken ist immer ein Denken in Raumkräften. Auch auf diesem Gebiet gilt es, sich neu zu orientieren. In der umgangssprachlichen Charakterisierung des Raumes als einer aus drei Richtungen bzw. drei Dimensionen gebildeten Einheit spiegelt sich noch eine im Grunde längst überholte Raumvorstellung. Da erscheint es wie ein Paradox, wenn wir sprachlich einer statischen Raumvorstellung verpflichtet bleiben, aber vorstellungsmäßig den Raum kaum anders begreifen können denn als dynamische Einheit. Den Veränderungen der Erkenntnisse folgt offensichtlich die Veränderung der Verhältnisse nicht auf dem Fuß. Dabei ist diese Veränderung keineswegs völlig neu. Wenn Brancusi sich beispielsweise entschieden weigerte, die Abmessungen seiner Skulpturen in Zentimetern anzugeben, muss der Grund in eben dieser neuen dynamischen Raumvorstellung liegen. Manckes Plastiken sind ebenfalls einem dynamischen Raum verpflichtet: Zwar brechen sie nicht im kernplastischen Sinne aus, dennoch strahlen die Oberflächenbewegungen und Kantenverläufe in einem dynamischen Sinne weit über ihre materiellen Grenzen hinaus.

Welchen Weg der Annäherung an das abstrakte Werk Christoph Manckes der Betrachter auch immer wählen mag, ob er dem einleitend zitierten Hinweis Joseph Beuys' folgt oder andere Möglichkeiten nutzt, letztlich ist auch in unseren Tagen noch Hegels Forderung nach einem gleichgewichtigen Verhältnis von Empfindung und Verstand beim erlebenden Betrachter wie beim gestaltenden Künstler eine Forderung der Sache selbst. Damit die Identität der Natur außer uns und der Natur in uns erreicht wird, müssen einerseits die wache Besonnenheit des Verstandes, andererseits die Tiefe des Gemüts und der beseelenden Empfindung(2 Friedrich Hegel) zusammentreten. Die Schwierigkeiten zwischen Verstand und Gemüt eine befriedigende Balance zu erreichen, haben mit der abstrakten Formensprache entgegen allen anfänglichen Hoffnungen keineswegs abgenommen. Ganz im Gegenteil. Die von literarischen Bezügen freie Form erweist sich als ausgesprochen multivalent und provoziert geradezu ihre eigene Brechung, zieht also Fragen und Antworten, das heißt Text und Theorie in besonderem Masse an. Bei einer überall zu beobachtenden Dominanz der diskursiven Bewältigung von Wirklichkeit heißt es, auf der Hut zu sein und immer wieder neu darauf zu achten, daß das Sehen dem begrifflichen Denken nicht bedingungslos untergeordnet wird, denn es bedarf letztlich einer anderen, eigengesetzlichen Erkenntnisform, um die Werke zu erfassen, einer Form, die sich nur schwer und nie restlos in Sprache transponieren lässt und im Sehen selbst verwirklicht werden muss. Denn nur in der Wahrnehmung lässt sich die reichste Form der sinnlichen Erkenntnis erleben. Das Sehen selbst aber, die wichtigste Voraussetzung, um die 'Form' als Inhalt, als 'die Sache selbst' zu empfinden, ist nicht delegierbar und muss von jedem Einzelnen immer wieder neu vollzogen werden.

Kraft und Gewalt

Die Bedeutung des Materials

Der weitaus größte Teil der Arbeiten Manckes ist im Eisengussverfahren hergestellt worden. Es mutet fast anachronistisch an, wenn heute ein Bildhauer, im Zeitalter der Kunststoffe und Mikrochips, ein Material verwendet, dessen große Zeit unzweifelhaft der Vergangenheit angehört. So ist Eisen für den Künstler wie für den Betrachter seiner Werke ganz offenbar kein beliebiges Material, das genauso gut durch ein anderes ersetzt werden könnte. Zu eng ist das Material Eisen mit bestimmten Vorstellungen verknüpft, als dass es sich vorbehaltlos - wie Bronze oder Marmor - als ein möglicher Rohstoff unter vielen für Kunstgegenstände klassifizieren ließe. Mit Eisen verknüpft sich die Vorstellung von Erz, Härte, Kraft, Gewicht und Gewalt, aber auch die Erinnerung an die geschichtlich wichtige ökonomische und politische Funktion dieses Stoffes. Gedanken an die gesellschaftlich bestimmende industrielle Produktion von Maschinen und Waffen stellen sich ein. Eisen ist voller Bedeutung, voller Eigenschaften, die der Bronze nicht zugeschrieben werden können. Gerade zum Eisen gibt es eine Fülle einzigartiger Verbindungen und Beziehungen zwischen den Menschen und den Dingen und der Natur, zwischen Kunst und Gesellschaft. So ist auch heute noch das Verhältnis der Eisengussskulpturen Christoph Manckes zur körperlich anstrengenden Produktionsform ein dialektisches. Die Eisenskulpturen "ästhetisieren das Material, aus dem zum Beispiel Werkzeuge, Maschinen und Panzer hergestellt werden, indem sie es seiner funktionalen Rolle entkleiden und für primär optisch in Erscheinung tretende Gegenstände verwerten; andererseits erfährt das Kunstobjekt eine "Industrialisierung', indem es aus den Materialien und mit dem Verfahren gefertigt wird, die zum Beispiel die Serienproduktion von Werkzeugen, Maschinen, Panzern und deren Funktionstüchtigkeit ermöglichen - sieht man einmal davon ab, dass die Verfahren bei der Kunstproduktion vereinfacht sind.(3 Uwe M. Schneede) Im Eisen treffen also noch einmal heute üblicherweise verstreut auftretende Aspekte zusammen.

Eisen hat bekanntlich spannungsstiftende, unverwechselbare Oberflächeneigenschaften, besitzt eine ,Haut', die sich verändert, lebt und auf äußere Einflüsse reagiert, sie zeigt ein bestimmtes Farbenspektrum, das sich von schwarzbraun bis zu einem leuchtenden Rot auffächert. Den Farben und Strukturen mancher Baumrinden oder der Patina alter Lederprodukte verwandt, stellen die der Witterung ausgesetzten Eisenplastiken eine organisch anmutende Oberfläche zur Schau. Dort, wo der Eisenguss in Kontrast gesetzt wird zu anderen Materialien, wird das besonders deutlich. So, als sei er gewachsen, nach undurchschaubaren Gesetzen zwar, aber dennoch den bekannten Formen des Wachstums weitgehend verpflichtet, lehnt Beispielsweise ein Guss aus dem Jahre 1990 über einer roh belassenen türrahmenähnlichen Holzkonstruktion, kontrastiert mit dieser und verbindet sich gleichzeitig mit ihr. Das weiche, fragile Material stützt hier also den harten, äußerst labilen und belastbaren Stoff. Auch das ist eine Formel. Ist es im wenig bearbeiteten Material Holz vor allem die gebaute Form, welche die Spur der menschlichen Arbeit trägt, so zeigt sich im Eisenguss neben der Form auch im Material die Präsenz des Menschen. Form und Material zusammengenommen sind also erst signifikant für die Anwesenheit von Seele und Geist.

Plastik hören

Wiederholt ist auf die Beziehung zwischen abstrakter Kunst und Musik verwiesen worden. Man muss diese Hinweise aber nicht zu wörtlich nehmen und gleich synästhetische Fähigkeiten, wie Kandinsky sie besaß, trainieren oder gar an eine Übersetzung zweier Gattungen denken, wie sie Louis-Bertrand Castel (1688-1757) mit seinem Farbenklavier im Sinn hatte. Außerdem sind die gedanklichen, das heißt sprachlichen Analogien zwischen abstrakter bildkünstlerischer Form und Musik heute so bekannt, dass es hierfür eigentlich keines besonderen Hinweises mehr bedarf. Wir sprechen besonders in der Malerei häufig von der Harmonie der Farben, von Farbakkorden, von Rhythmen, vom Kompositionsschema einer Fuge, von melodischen Verläufen und ähnlichen Dingen. Das alles sind unbestritten Gesetze, die sich Musik und abstrakte Formensprache teilen, die jedoch das Besondere der abstrakten Kunst nicht hervorheben können. Wenn einem angesichts der Werke Manckes dennoch dieser Vergleich in den Sinn kommt, dann aus anderen Gründen. Mir geht es um den Hinweis auf ein Hören, das mehr die Arbeit der Seele, als die des Verstandes ist. Dadurch, dass wir für gewöhnlich sofort nach dem was bedeutet es und nicht mehr nach dem was ist es fragen, sind unsere Sinne verarmt. So hat heute kaum noch jemand das Gehör um beispielsweise die feinen Unterschiede zwischen den Tönen cis und des auszumachen. Was nun die Ohren an Tönen nicht mehr wahrzunehmen imstande sind, das ist den Augen an Farben und Formen verloren gegangen. In dem Versuch, alles begrifflich zu bestimmen, liegt nämlich nicht nur eine Chance, sondern auch eine große Gefahr. Denn je gedankenfähiger Auge und Ohr werden, um so mehr kommen sie an die Grenze, wo sie unsinnlich werden: die Freude wird ins Gehirn verlagert, die Sinnesorgane selbst werden stumpf und schwach, das Symbolische tritt immer mehr an die Stelle des Seienden - und so gelangen wir auf diesem Wege so sicher zur Barbarei, wie auf irgendeinem anderen.(4 Friedrich Nietsche) Gegen diese Entwicklung setzt Christoph Mancke sein Werk. Was er erreicht hat, haben wir zu entscheiden. Denn was eine Plastik ist, was sie aussagt, klärt sich letztlich erst im Betrachter, ist also weitgehend von dessen Möglichkeiten und Fähigkeiten abhängig. Das Kunstwerk wird so zu einem Angebot, das sich nur in der sinnlichen Auseinandersetzung vollendet, wenn nicht überhaupt erst konstituiert. Es bietet dem Betrachter im gelungenen Falle die Chance, sich selbst allmählich ein künstlerisches Auge auszubilden. Denn erst ein derart geschultes Auge ist in der Lage, die eigene Kunstkraft intensiver wahrzunehmen und gestalterisch einzusetzen. Vielleicht im Sinne einer sozialen Plastik, wie sie Joseph Beuys beschrieben hat. Denn das, was alle Nicht- Künstler Form nennen, also als eine Äußerlichkeit beschreiben, ist letztlich doch die Sache selbst.

_______________________________

1 Friedrich Nietzsche, aus dem Nachlass der Achtzigerjahre, zitiert nach: F.N., Werke in 3 Bänden, hrsg. v. Karl Schlechta, München 1966 (8. Aufl. 1977), Bd. 3, S. 691
2 Friedrich Hegel, Ästhetik, (Berlin, 1955), pp. 163, 291.
3 Uwe M. Schneede, Introduction to the exhibition catalogue: Eisen- und Stahlplastiken 1930-70, (Württembergischer Kunstverein, Stuttgart, 1970), p. 6
4 Friedrich Nietzsche, Menschliches, Allzumenschliches; Aus der Seele der Künstler und Schriftsteller, Vol. 1, p. 575